Philoktet - Kritik

Hier kommt kein Halbgott mehr als Retter
von BEATE LAMMER (Die Presse) 09.03.2004



So spielt man Sophokles kurzweilig, zugänglich und doch werktreu: "Philoktet" in Wien, in der Alten Schieberkammer.

Ein "Entscheidungsspiel". So nennt Regisseurin Elisabeth Biedermann ihre Bearbeitung des Sophokles-Stücks, das derzeit in der Alten Schieberkammer in Wien (U3-Station Johnstraße) aufgeführt wird. Die Zuschauer sitzen wie im Fußballstadion rund um die Bühne und schauen zu, wie drei Männer aufeinander Druck ausüben.

Der junge Krieger Neoptolemos, von Christian Kainradl als heißblütiger, aber unsicherer Jüngling dargestellt, wird so zur Hauptfigur: Er tut sich schwer mit Entscheidungen, weil er es allen recht machen will. Sein Heerführer Odysseus hat ihm befohlen, das Vertrauen des kranken Philoktet zu erschleichen, den die Griechen wegen seiner stinkenden Wunde auf einer einsamen Insel ausgesetzt haben. Ohne dessen Bogen, so ein Orakel, könne man Troja nicht einnehmen. Neoptolemos gehorcht Odysseus und erschleicht sich den Bogen. Sein schlechtes Gewissen heißt ihn jedoch, Philoktet den Bogen zurückzugeben. Die Konsequenzen dafür will er aber auch nicht tragen, also redet er Philoktet zu, freiwillig nach Troja mitzukommen . . .

In Biedermanns Inszenierung führen weniger unterschiedliche Wertvorstellungen zu den Konflikten als Machtverhältnisse, der Druck von entgegengesetzten Seiten, der die Akteure zu Zugeständnissen zwingt. Die Schauspieler setzen diese Vorgabe gekonnt um: Michael Reiter - verwegen im Ledermantel - spielt einen skrupellosen Odysseus, mehr gehetzt und ungeduldig als listenreich. Stephan Clemens brilliert als Philoktet in jammervoller Selbstaufgabe und feuriger Anklage, Christian Kainradl spielt den zwischen Erfolgsstreben und Mitleid hin- und her gerissenen Neoptolemos glaubwürdig überfordert.

Der Chor besteht nur aus zwei Frauen (Tanja Ghetta und Anke Zisak), was den Vorteil hat, dass sein Einflüstern und Bedenken, Zu- und Abraten spontan wirkt - und verständlich ist. Die Sprache ist soweit modern, dass man den Reden leicht folgen kann, trotzdem sind Poesie und Klarheit des Originals erhalten.

Auch das leidige Problem mit dem "deus ex machina" hat Biedermann passabel gelöst: Bei Sophokles kommt am Schluss Herakles als rettender Engel auf die Bühne und befiehlt Philoktet, mit nach Troja zu kommen. Ein für heutige Zuseher eher unbefriedigendes Ende; Heiner Müller etwa hat es in seiner Bearbeitung verfremdet und lässt Neoptolemos den Philoktet ermorden. Biedermann bricht einfach ab, bevor Halbgott Herakles seinen Auftritt hat; der Schluss bleibt offen. Ein zwangloser, doch respektvoller Umgang mit dem Stück.